Widerstand und Kollaboration
Am 13. September nahm die „Sittenpolizei“ (gegen die Gesellschaft gerichtete Spezialkräfte des iranischen Staates) die Kurdin Jîna Masha Amini wegen eines zu lose getragenen Kopftuches fest. Sie schlugen ihr bei der Festnahme nachweislich auf den Kopf. Sie fiel kurze Zeit später in der „Obhut“ der Polizei ins Koma und verstarb am 16. September im Krankenhaus. Daraufhin brach ein sich immer mehr ausweitender Widerstand unter den Völkern des Irans aus. Wir können erkennen, dass die Bevölkerung nur auf die Gelegenheit eines erneuten gemeinsamen Aufstandes gewartet hat und bereit ist einen hohen Preis zu zahlen – es sind bereits 76 getötete Protestierer:innen zu beklagen, Menschen die aus Anlass der Tötung von Jîna Masha Amini ihr Leben zusätzlich eingesetzt haben, um den Tod von Jîna Amini nicht sinnlos sein zu lassen.
Und wie am 17. September durch über Social Media verbreitetes Video öffentlich wurde, töteten, folterten und vergewaltigten aserbaidschanische Soldaten die armenische Soldatin Anush Apetyan.
Die Folterungen und Vergewaltigung an der armenischen Soldatin zeigen ein erschreckendes Maß an Brutalität und eine barbarische Haltung der aserbaidschanischen Soldaten. Gleichzeitig erinnern uns diese Taten an die Bilder des IS, auf denen sie Menschen verstümmelt, gefoltert, vergewaltigt und ermordet haben.
Es macht wieder einmal deutlich, dass insbesondere Frauen das erste Ziel dieser patriarchalen menschenverachtenden „Politik“ der Gewalt und dieser Mentalität sind. Dieser Femizid kann nicht als gewöhnlicher Tod unter Soldaten im Krieg, wo es zu solchen Massakern „nun mal kommt“, betrachtet werden. Der Femizid an Anush Apetyan zielt zugleich auf die gesamte armenische Gesellschaft und ihren Widerstand gegen die Besatzung.
Anush Apetyan repräsentiert eine Gesellschaft, die einen Genozid erlebt hat. Ein Angriff auf sie ist gleichzeitig ein Angriff auf die gesamte Gesellschaft. Frauen werden in Kriegen instrumentalisiert und die Gewalt gegen sie spielt bei der repressiven Besatzungsmacht eine wichtige und entscheidende Rolle.
Deutlich wird dies auch mit dem genozidalen Angriff auf das ezidische Volk, bei dem die Frauen als Sexsklavinnen verkauft worden sind, um so den Widerstandsgeist der Gesellschaft zu brechen und so das Verstummen der Gesellschaft zum Ziel hatte.
Eine Vorreiterrolle in diesen bestialischen Angriffen auf Frau und Gesellschaft übernimmt hier vor allem das repressive türkische Staatsregime, dieses geht von Beginn der Staatsgründung an mit der gleichen grausamen und systematischen Unterdrückung gegen Frauen vor.
Die Rolle des türkischen Staates bei der aserbaidschanischen Aggression gegen Armenien und der Besetzung dessen Territorien ist zudem eine strategische wie eine geschichtliche. Die Türkei hat sich schon mehrmals offen zum verbündeten der aserbaidschanischen Regierung erklärt und unterstützt diese sowohl politisch als auch militärisch. Das Feindbild der Türkei gegenüber dem armenischen Volk hat einen geschichtlichen Hintergrund, der mit einem Völkermord endete.
In den Jahren 1915/16 ermordeten Soldaten des Osmanischen Reichs gezielt hundertausende Armenier:innen durch Massaker und auf Todesmärschen. Der „Genozid vor dem Genozid“ wird von den meisten Länder heute auch als solcher anerkannt. Seine Leugnung ist in Frankreich sogar strafbar.
In der Türkei hingegen gehört die Leugnung des Genozids an den Armenier:innen bis heute zur Staatsraison, Gedenkveranstaltungen lässt der türkische Staat verbieten. Die Bilder von der ermordeten armenischen Soldatin erinnern zutiefst an die Bilder des Völkermords. Die Brutalität und Erbarmungslosigkeit der türkischen und aserbaidschanischen Soldaten spiegeln zu deutlich die patriarchale Gewalt wider, mit der schwangeren lebendigen Frauen das Baby aus dem Bauch geschnitten, Frauen gefoltert, vergewaltigt und versklavt wurden.
Ebenfalls im September wurde öffentlich, dass Atilla Çiçek und Hüseyin Yıldırım der HPG-Volks-Verteidigungskräfte im August an den türkischen Staat ausgeliefert worden sind. Die beiden kurdischen Kämpfer kamen im armenischem Grenzgebiet in Berührung mit der armenischen Armee, sie verhielten sich umsichtig, ließen sich festnehmen, wurden vor einem armenischen Gericht angeklagt und freigesprochen. Nach armenischem wie internationalem Recht hätten sie freigelassen werden müssen, jedoch wurden sie gefangen genommen und im August an den türkischen Staat ausgeliefert. Darüber, wer das zu verantworten bzw. durchgeführt hat, gibt es zwei Versionen: in der einen waren es Geheimdienstler des türkischen Dienstes MIT, die die beiden entführt und in die Türkei verschleppt hätten; in der anderen jedoch wird darauf hingewiesen, dass dies nur eine Verschleierung der Tatsache ist, dass die armenische Regierung als Zugeständnisse an die türkische Regierung die beiden Kurden ausgeliefert hat.
Die Auslieferung der beiden Guerillakämpfer hat die Kritik der armenischen Opposition erneuert, die dem Regierungschef der Kaukasusrepublik im Hinblick auf die aserbaidschanische Aggression Landesverrat vorwerfen; Angesichts der Tatsache, dass für den türkischen Staat das armenische Volk immer noch als Feindbild fungiert und es im Grunde in der Türkei über keinerlei politische und kulturelle Rechte verfügt, beweist die armenische Regierung unter Paschinjan keinerlei Haltung gegenüber dem türkischen Staat und gerät aufgrund ihrer Zugeständnisse gegenüber Aserbaidschan immer mehr unter den Druck der eigenen Gesellschaft. Noch heute sind die in der Türkei lebenden Armenier:innen kontinuierlichen Diskriminierungen und Anfeindungen ausgesetzt, die Ermordung von Hrant Dink am 19.01.2007 in Istanbul war die Umsetzung einer systematischen Hetze.
Abgeordnete bezeichneten die Guerrillakämpfer:innen als kurdische Freiheitskämpfer:innen und Revolutionäre, die gegen die türkische Unterdrückung kämpften. Wie könnte das armenische Volk solch eine Politik akzeptieren, wie könnte es seine Geschichte derart stark verleugnen und sogar vergessen, wo das türkische Regime für seine grausamen Taten keinerlei Verantwortung übernimmt und das armenische Volk auf keiner Ebene anerkennt.
Daher rufen wir das armenische Volk vor allem jedoch alle armenischen Frauen dazu auf, sich gegen diese Leugnungs- und Verratspolitik aufzulehnen. Es ist die Aufgabe von uns Frauen mit dem Geist und der Parole JIN JIYAN AZADÎ Rechenschaft zu fordern, nicht von denen die Widerstand leisten sondern von denen, die Genozide verüben.
Diese drei feindlichen Angriffe auf Menschen, die Widerstand leisten gegen militarisierte, fundamentalistische, imperialistische Mächte machen uns deutlich wie vielfältig die Angriffe auf Frauen, die Gesellschaft und den Widerstand sind, wie viel verschiedene Ebenen die Kämpfe haben, dass wir nur gemeinsam gewinnen können und jede Form des Widerstands, jede Arbeit, wie z.B. Recherche und Informationsarbeiten für den Widerstand wichtig sind und ihre Bedeutung haben.
Deshalb ist es wichtig, Widerstände zu vereinen, von militärischem Widerstand bis zum gesellschaftlichen Ungehorsam.
Es ist essentiell, auf die Bedeutung des Kampfes der Frauen hinzuweisen und das Recht autonomer Frauen- und FLINTA-Organisierung zu betonen, so wie es Abdullah Öcalan schon seit den 1980er Jahren getan hat. Denn der Kampf der Frauen und FLINTA beinhaltet eine Vorreiterrolle für die Fortschrittlichkeit einer Widerstandsbewegung.
JIN JIYAN AZADI
Es lebe die Frauenrevolution
28.09.2022 – Cenî – Kurdisches Frauenbüro für Frieden