JIN JIYAN AZADI- Wir sind ein Ausdruck von eurem Widerstand
Angeführt von der kurdischen Frauenbewegung, fand die zweite internationale Frauenkonferenz des Netzwerks Women Weaving the Future am 5. und 6. November in Berlin statt. Auf der Konferenz sammelten sich 700 Teilnehmende aus fast 50 Ländern. Thematisch ging es um Perspektiven der Frauenbewegung und ihren Kampf gegen Rassismus, Nationalismus und Faschismus sowie die Notwendigkeit, eine antifaschistische Frauenfront aufzubauen. In ihrer Eröffnungsrede sprach Melike Yasar, Sprecherin der Diplomatie der kurdischen Frauenbewegung in Europa, über die Verletzung von Frauenrechten und den Freiheitskampf von Frauen in verschiedenen Ländern der Welt.
Yasar grüßte alle revolutionären Frauen, die als politische Gefangene von patriarchalen Regimen, die das Leben unlebbar machen wollen, festgehalten werden und trotz allem weiterhin in Gefängnissen für Freiheit kämpfen. In diesem Kontext sagte sie: „Wir versprechen, dass wir eure Utopie verwirklichen werden. Im Namen des Netzwerk Women Weaving Future Berlin möchte ich meine Einleitung in diesem Saal in dem Hunderte von Widerstandskämpferinnen aus aller Welt anwesend sind, mit dem Slogan schließen, der seit Wochen Menschen in seinen Bann gezogen hat. Dieser Slogan ist unsere Lebensphilosophie, unser Freiheitsversprechen, ein Geschenk der Frauen Kurdistans an die Freiheitsbewegungen auf der ganzen Welt – gegen das Patriarchat, gegen den Kapitalismus, gegen alle Formen des Faschismus: Jin – Jiyan – Azadî!“
Moderiert von Meghan Bodette, Forschungsdirektorin des Kurdischen Instituts für Frieden in den USA, wurde in der ersten Sitzung am Samstag „Der Dritte Weltkrieg und die Zerschlagung der Immunität des Staates und des dominanten Mannes“, diskutiert, was im Zeitalter von Krieg, Besatzung, Klimakatastrophe und Pandemien, an der revolutionären Frauenfront passiert. Es ging um das hegemoniale System und wie es neue Methoden und Strategien entwickelt, um die grundlegenden Konflikte unserer Zeit zu verbergen und von ihnen abzulenken, während es seinen patriarchalen Krieg gegen Frauen und ihren Widerstand fortsetzt. Dagegen muss es eine alternative Widerstandslinie geben, fernab von liberalem Feminismus, der nur versucht, den Widerstand und Kampf von Frauen in das kapitalistisch-patriarchale System zu integrieren.
Nilüfer Koç, Mitglied des Kurdistan National Congress—KNK, and eine Repräsentantin von der Revolutionary Women’s Association of Afghanistan—RAWA haben in diesem Zuge auch betont, wie der Widerstand von Frauen überall, radikaler sein muss als ein Werkzeug zur Verbesserung des Systems (Rechte, Zugang zu Abtreibung, etc.). Vielmehr muss auf allen Ebenen der Gesellschaft und des Zusammenlebens gegen das Patriarchat gekämpft werden, d.h. von staatlicher und institutioneller Gewalt bis hin zur männlichen Dominanzmentalität.
Lolita Chavez von Feministas Abya Yala in Guatemala und Ariel Saleh, Soziologin und Ökofeministin aus Australien, sprachen in der Sektion „Ökozid: Abbau von Herrschaft, Enteignung, Unterdrückung: die Unterwerfung und Besiedlung der Natur und die rücksichtslose Aneignung und Ausbeutung von Ressourcen“ darüber, wie sie sich den lebensbedrohlichen Praktiken multinationaler Konzerne und neuen Formen des Kolonialismus in verschiedenen Teilen der Welt widersetzen. Die Rednerinnen betonten, dass die ökologische Krise als drängendste globale Krise in die Agenda des 21. Jahrhunderts eingetreten ist und dass diese Krise insbesondere auch anhaltende Gewalt gegen Frauen hervorbringt. Die Podiumssprecherinnen riefen dazu auf, den Kampf gegen den Ökozid zu einem Grundprinzip des Kampfes gegen das patriarchale System zu machen.
Beim Panel „Unsichtbare Arbeit Sichtbar Machen: Das Überleben des Systems basiert auf der un- und unterbezahlten von Frauen“ wurde diskutiert, wie der auf dem Prinzip der Frauenemanzipation basierende Klassenkampf zu einem grundlegenden Faktor im Kampf gegen die Grundlagen kapitalistischer Ausbeutung werden kann. Genevieve Vaughan, eine Friedensaktivistin und Feministin, die in den USA und Italien arbeitet, und Kavita Krishnan von der All India Progressive Women’s Association erläuterten die Perspektive von Frauen, die sich im Klassenkampf engagieren, auf deren Ausbeutung die Klassenhierarchie und der Staatsapparat aufgebaut sind.
Der erste Tag der Konferenz wurde nach den Panels mit Workshops fortgesetzt. Hier ging es u.a. um den Kampf gegen erzwungene Migration und die Verteidigung des Rechts der Menschen, dort zu leben, wo sie wollen. Thema eines Workshops was besipielweise auch der Gesundheitssektor als einer der Bereiche, in denen das Patriarchat durch Usurpation, absichtlicher Ignoranz und Aneignung weiblicher Schöpfungen dominiert. Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang war wie ein alternatives Verständnis von Gesundheit und eine alternative Medizinpraxis entwickelt werden kann, die sich an den Bedürfnissen der Gesellschaft orientiert und nicht im Dienst des kapitalistischen Profits steht.
Die Workshops, die sich unter anderem auch mit Ökonomie und Ökologie befassten, diskutierten die Details des Ringens um ein alternatives Verständnis von Ökonomie, das die übermäßige Gier und Profitgier des Kapitalismus eindämmen kann. Wie Frauen den Kampf für Ökologie angehen und wie man einen ökologischen Kampf entwickelt, der soziale und geschlechtsspezifische Freiheit einschließt, wurden im Zusammenhang damit auch diskutiert.
Auch die Bewahrung von Sprache und Kultur, die Rolle von Erinnerungen, Frauen im Kampf gegen Rassismus, Nationalismus und Faschismus und die Notwendigkeit des Aufbaus einer antifaschistischen Frauenfront gehörten zu den Themen, die in den Workshops diskutiert wurden.
Es war ein kraftvolles Zusammenkommen zu einer Zeit, in der der Widerstand von Frauen immens breit und stark ist. Autoritarismus, Krieg, Umweltzerstörung und andere Bedrohungen sind weltweit auf dem Vormarsch. Studie um Studie, Bericht um Bericht, zeigen, dass Frauen und weitere unterdrückte Geschlechter von all diesen Herausforderungen überproportional betroffen sind. Gleichzeitig führen Frauen und alle unterdrückten Geschlechter den Kampf um eine Alternative. Während der Konferenz wurde immer wieder deutlich, dass dies kein ideologisches Statement ist, sondern gelebte Realität – viele waren anwesend und konnten praktisch genau diese Realität besprechen.
Am zweiten Tag der Konferenz fanden drei Sitzungen mit neunzehn Diskussionsteilnehmern statt. In den Diskussionen kristallisierten sich mehrere gemeinsame Themen heraus, die die Notwendigkeit eines systemischen Wandels hervorhoben, um die Bedrohungen zu überwinden, denen Frauen ausgesetzt sind. Eines dieser Themen war die Bedeutung einer radikalen und ehrlichen Einschätzung der Politik sogenannter „liberaler“ Zustände. Die Politiksoziologin Dilar Dirik wies auf die Rolle europäischer Demokratien bei der Förderung von destruktivsten Formen des rechtsextremen Nationalismus und des religiösen Fundamentalismus im Mittleren Osten hin und betonte die Rolle westlicher Staaten in Bezug auf die Kriminalisierung von Bewegungen und Widerstandskämpfen. Genau diese Staaten behaupten in selbem Atemzug, dass sie Terror und Extremismus bekämpfen. Die Aktivistin Jade Daniels hob die Heuchelei der US-Positionierung hervor, die sich trotz seiner Kriege im Ausland, rassistischer Polizeibrutalität und Masseninhaftierung im eigenen Land, nach wie vor als moralische Autorität positioniert.
Ein weiteres wichtiges Thema war die zentrale Bedeutung der Selbstbestimmung für die Kämpfe der Frauen und die Auswirkungen von Kolonialismus und Besatzung auf Frauen. Ñizol Lonko Juana Calfunao, eine Vertreterin des Mapuche-Volkes, sprach über die Rolle des chilenischen Staates und des extraktivistischen multinationalen Unternehmen bei der Verfolgung ihres Volkes und der Zerstörung ihrer Traditionen und Heimat. Asya Abdullah, die Ko-Vorsitzende der Partei der Demokratischen Union (PYD), machte auf die Drohnenangriffe der Türkei in Nord- und Ostsyrien aufmerksam und betonte, dass diese insbesondere auf prominente weibliche Führungspersönlichkeiten im Kampf für die kurdische Selbstbestimmung abzielen. Sie erzählte auch von den an Frauen begangenen Gräueltaten im von der Türkei besetzten Afrin in Nord- und Ostsyrien.
Die Aussicht auf den Aufbau einer supranationalen Frauenorganisation im Rahmen von eine demokratischen Konföderalismus von Frauen und allen unterdrückten Geschlechtern wurde in der Abschlusssitzung diskutiert. Das von der kurdischen Freiheitsbewegung entwickelte politische Modell begründet sich in dem Zustand, dass der bisherige Kampf der Frauen „noch nicht in der Lage war, über das bestehende dominante System hinauszugehen“. Um die Kräfte zu überwinden, die Frauen unterdrücken, argumentiert der Vorschlag, dass Organisationen nicht die gleichen Formen annehmen dürfen, wie patriarchalische Institutionen wie Staaten und Unternehmen. Vielmehr müsse eine Alternative geschaffen werden, die außerhalb der Autorität der Nationalstaaten funktioniert – eine Grundlage also für ein alternatives Zusammenleben, wie sie in Nord- und Ostsyrien umgesetzt wird.
Die Abschlusserklärung der Konferenz betonte den Willen der Teilnehmenden, die Systeme herauszufordern, die Frauen töten und unterdrücken und alle Frauen zu ehren, die ihr Leben aufgrund von staatlicher und männlicher Gewalt verloren haben.
„Wir sind gegen Rassismus, Ausbeutung, Kolonialismus, Militarismus, Multinationalismus und Staaten. Sie haben deshalb Angst vor uns. Lass sie noch mehr Angst haben. Wir vereinen uns und multiplizieren dagegen diejenigen, die unsere Taten und Worte kriminalisieren und unsere Lebensenergie plündern“, heißt es in der Erklärung.
„Die Moralpolizei des iranischen Regimes hat uns Jina Amini abgenommen. Der türkische faschistische Staat hat uns unsere Genossin und Freundin Nagihan Akarsel genommen. Im Sudan, Jemen, den Vereinigten Staaten und Lateinamerika, werden Frauen getötet, vergewaltigt, verhaftet und misshandelt. Sie schulden uns mehr als ein Leben. Sie verdanken uns das Leben unserer Mütter, unserer Großmütter, unserer Schwestern. Wir sind ein Ausdruck von ihrem Widerstand.“
Teilnehmende Einzelpersonen und Organisationen planen, ihre Diskussionen und gemeinsame Arbeit fortzusetzen.