Wenn wir streiken, steht die Welt still! – Wenn wir uns organisieren, verändern wir die Welt!
Liebe Frauen, Genossinnen, Freundinnen,
Wir haben letztes Jahr mit großer Freude und Begeisterung verfolgt, wie viele Millionen von Frauen auf die Straßen strömten. Millionen Frauen, die ein Zeichen setzen: es reicht! Nicht mit uns! Was für ein Zeichen! Was für eine Kraft! Was für eine Schönheit dort zum Ausdruck kam!
Wir begrüßen den Frauenstreik von Herzen. Wir freuen uns sehr über diese Initiative in Deutschland und dass nach langen Jahren mit großen Schwierigkeiten uns als Frauen zu organisieren, wieder ein gemeinsamer Versuch zu einem breiten und starken Frauenbündnis gemacht wurde. Das freut uns als Kurdische Frauenbewegung sehr und stärkt unsere Hoffnung. Denn für uns ist eines ganz klar: die verändernde/revolutionäre Kraft ist die Kraft der Frauen. Ein Frauenstreik ist ein großartiges Zeichen des Widerstands, ein kollektiver Ausdruck dessen, sich nicht länger zu fügen und nicht länger stillschweigend mitzumachen.
Denn der patriarchale Normalzustand ist immer ein Angriff auf Frauen. Jede Sekunde unseres Lebens leben wir in einem System, das uns ausbeutet, unterdrückt, uns misshandelt, erniedrigt, schwächt. Doch Gewalt, Ungleichheit, Chancenlosigkeit, Ausbeutung, Erniedrigung werden individualisiert: „Sie hat sich eben nicht ausreichend angestrengt“, „Sie ist nicht intelligent genug“, „Sie ist nicht stark genug“, „Sie hat sich nicht gewehrt“. Individuelles Schicksal oder Selbstverschulden. So interpretieren wir, was heutzutage mit unseren Schwestern gemacht wird.
Die Angriffe des patriarchalen Systems nehmen auch weltweit immer weiter zu. Dass heutzutage Faschisten wie Trump, Bolsonaro oder Erdogan Wahlen „gewinnen“ bzw. besser ausgedrückt – die Macht ergreifen können, ist erschreckend und ein Armutszeugnis für unsere sogenannte Demokratie. Dass heutzutage Saudi Arabien ohne große diplomatische Probleme kritische Journalisten ermorden kann, dass eine feministisch-queere Politikerin in Brasilien auf offener Straße erschossen werden kann, dass das NATO-Mitglied Türkei einen völkerrechtswidrigen Besatzungskrieg führen kann, ohne dass unsere sogenannten Demokratien auch nur eine ernstgemeinte kritische Silbe fallen lassen, sollte uns eigentlich alle auf die Straßen treiben. Eigentlich sollten wir – die so oft zur Rettung vor Pflegenotstand und anderen Aufgaben, die der neoliberale Staat nicht mehr erledigen will, herbeigerufene Zivilgesellschaft – das tun, was unsere Regierungen nicht tun: für wahre Demokratie, Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit einer Jeden einstehen, aufstehen, kämpfen. Doch die Grundregel des Patriarchats: „Teile und Herrsche“ haben wir mittlerweile selbst zutiefst verinnerlicht, wir sind in kleine Gruppen zersplittert und wissen zu wenig über die Schmerzen und Träume unserer Schwestern. Sollte nicht jeder Frauenmord uns auf die Straße treiben? Sollte nicht jeder barbarische Besatzungskrieg uns in die Büros derjenigen stürmen lassen, die dem hinter ihrem Schreibtisch sitzend zugestimmt haben? Sollte nicht jede Bombe, die fällt, nicht mindestens einen Aufschrei hervorbringen? Wo sind unsere Gefühle füreinander geblieben? Wo ist unsere Empathie? Wo ist das Interesse füreinander? Wo ist die Fürsorge füreinander? Wo ist unsere Menschlichkeit? Wo können wir heute das tun, was wir wirklich wollen? Wann führen wir ein sinnvolles Leben? Wenn wir einmal nachdenken: wie viel Zeit unseres Lebens verbringen wir mit dem, was uns am Herzen liegt? Und wie viel Zeit verbringen wir mit dem, was uns von den Medien, von den Schulen, von unseren Chefs, von unseren Partnern vorgegeben wird?
Jeder Kampf, jeder Widerstand beginnt mit einem Widerspruch und einer Weigerung. Der Weigerung, sich zu beugen. Der Weigerung, zu schweigen. Der Weigerung, so wie bisher weiterzumachen. Egal, welche Reaktionen kommen.
Und unser gemeinsamer Kampf kann noch viel weiter reichen! Ein Frauenstreik ist von großer Bedeutung, da er Raum für Diskussion und Auseinandersetzung schaffen und der gemeinsamen Bewusstseinsstärkung dient. Aus ihm können sich konkrete Ergebnisse herausbilden, die einen direkten positiven Einfluss auf das Leben von Frauen haben. Will ein Kampf erfolgreich sein, ist eine gemeinsame Grundlage, ein Verständnis füreinander essentiell. Frauenstreik kann dies mit sich bringen, wenn dieses Bündnis es schafft eine tatsächliche Verbindung zwischen uns zu schaffen und nicht pragmatisch zu sein. Eine Verbindung zueinander, die uns nicht nur miteinander, sondern auch füreinander kämpfen lässt. Dafür sehen wir es auch als wichtig an den Mut zu haben, viele Fragen zu stellen. Was bedeutet Gleichheit für dich? Und für dich? Und für wieder eine andere von uns? Was heisst Patriarchat? Was will und kann ein Frauenstreik erreichen? Wollen wir nur protestieren oder wirklich Widerstand leisten und hierfür eine organisierte Form des Kampfes für Freiheit und Gleichberechtigung entwickeln? Was ist mit Solidarität? Verpflichtungen und Verantwortung? Warum leben wir Migrantinnen hier in Deutschland? Was erleben wir hier? Und was tun deutsche Frauen, um die Kriege außerhalb Europas Grenzen zu verhindern oder zu beenden? Was können wir gemeinsam tun? Schaffen wir es, diese Grundlage zu schaffen und offen und ehrlich miteinander zu diskutieren?
Aus unserer Sicht sind die Situation der deutschen Frauen und der migrantischen Frauen in Deutschland sowie der Frauen weltweit miteinander verbunden. Wir werden unsere Situation nicht ändern, wenn wir an kleinen Stellschrauben drehen. Für uns wäre es beispielsweise kein Erfolg, wenn der Gehaltsunterschied zwischen Frauen und Männern irgendwann einmal schwinden sollte. Gleichheit im Patriarchat bedeutet das Recht, wie Männer zu sein, bedeutet das Recht das patriarchale System stärken und verteidigen zu dürfen. Das System, das uns unterdrückt, uns ermordet, uns vergewaltigt bleibt das gleiche, wir machen es sogar noch stärker. Dieses Recht lehnen wir ab. Wir wollen ein anderes System mit anderen Werten, einer feministischen Ethik und einer politischen Gesellschaft. Wir wollen ein pluralistisches, im wahren Sinne demokratisches System. Deshalb müssen wir uns alle fragen: Wie weit gehen wir? Wie weit wollen wir, wie weit müssen wir gehen, um Veränderung zu schaffen? Was hält uns zurück? Welchen Einfluss haben dabei Liberalismus und Konformität? Inwieweit wollen wir auch einfach nur ein kleines Stück des großen Kuchens der Herrschaft?
Wir denken, dass wir einen Frauenstreik nicht nur einmal im Jahr, sondern immer wieder organisieren sollten. Immer, wenn eine von uns vergewaltigt oder ermordet wird. Wenn ein neuer Krieg begonnen wird. Wenn die nächste Katastrophe wieder das Leben von Tausenden zerstört. Dann sollten wir aufstehen, zusammenkommen und lauthals schreien: es reicht! Mit uns nicht! Wenn wir das patriarchale System verändern wollen, dann müssen wir uns dauerhaft und erfolgreich organisieren. Das patriarchale System selbst stellt eine enorm organisierte Kraft dar. Wie soll frau unorganisiert dagegen kämpfen?! Nur ein organisierter Kampf kann Verhältnisse auch wirklich verändern. Die Frage ist, sind wir dazu bereit, uns gemeinsam zu organisieren? Ein Frauenstreik bietet die Möglichkeit, ein starkes und breites Bündnis einzugehen, die Möglichkeit uns kennen zu lernen, verstehen zu lernen und Liebe für einander aufzubauen. Die Spaltungsversuche des Patriarchats, vor allem über Klasse und Herkunft zu überwinden, ohne Verschiedenheiten zu vergessen.
Wir kurdischen Frauen haben aus unseren Erfahrungen vor allem eines gelernt: wir streiken jeden Tag. Wir verweigern unsere Beteiligung am patriarchalen System jeden Tag. Wir verwenden jeden Tag dafür, unser eigenes System, unsere Alternative aufzubauen. Wir organisieren uns als Frauen und lernen uns jeden Tag aufs Neue kennen. Wir organisieren unsere Vielfalt. Wir organisieren die Umsetzung unserer Hoffnungen, unserer Wünsche, unserer Träume. Wir organisieren uns in Räten und beschließen gemeinsam, was wir umsetzen wollen. Wir haben unsere eigenen Institutionen aufgebaut, wir haben unsere eigenen Fernsehsender, unsere eigene Presse, unsere eigene Gerechtigkeitskommission, unsere eigene Selbstverteidigung aufgebaut. Aber vor allem haben wir gelernt, uns selbst ernst zu nehmen und uns selbst zu befreien. Wir warten nicht mehr auf die Zustimmung oder gar Unterstützung derjenigen, die uns unterdrücken.
Wir verstehen Streik im Sinne von Autonomie. Streik im Sinne von Selbstwerdung. Streik im Sinne von Vertrauen in unsere eigene Kraft. Streik im Sinne von Aufbau der Alternative. Und diese wollen wir gemeinsam mit euch aufbauen! Lasst uns deshalb den Streik neben gemeinsamen Aktionen gegen Waffenfabriken, AFD und sog. Lebensschützer, gegen die Ausbeutung unserer wertvollen Fähigkeiten weiterführen und unsere wiedergewonnene Energie in den Aufbau einer anderen, schöneren, freieren Welt stecken! wenn wir uns organisieren, verändern wir die Welt!