Erklärungen

Gastbeitrag: Antikurdischer Hass nimmt Leben!

von Seher Dilda (kurdische Aktivistin)

Noch vor dem 10. Jahrestag der Ermordung an Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez sind erneut Menschen in Paris am helllichten Tag erschossen worden. Der schmerzliche und unwiederbringliche Verlust unserer Freund*innen Evîn Goyî (Emine Kara), Abdullah Kızıl und Mîr Perwer (M. Şirin Aydın) zeigt uns erneut, wie exponiert Kurdinnen und Kurden auch in der Diaspora sind. Europa ignoriert antikurdischen Rassismus als ernstzunehmende und tödliche Gefahrenquelle für alle Kurdinnen und Kurden nicht nur, Europa trägt diese Gefahrenquelle aktiv mit.

Überall dort, wo Kurdinnen und Kurden sich organisieren, um schlicht existieren zu können, sind sie gefährdet. Alles, was sich offen als Kurdisch bekennt, ist unmittelbar in Gefahr. Ein Kulturverein, ein Laden, ein Restaurant, ein Mensch.

Dieser antikurdische Hass nimmt Leben. Es beginnt bei harmlos erscheinenden Witzen über die Staatenlosigkeit des kurdischen Volkes, den Stigmata, die darin weitergegeben und als Grundlage für rechte Ideologien fungieren. Die kurdische Identität ist ein Dorn im Auge derer, die demokratische und feministische Strukturen als Bedrohung für ihre alteingesessenen rechten Ideologien wahrnehmen. Demokratische und feministische Strukturen wie sie die seit Jahrzehnten aktive kurdische Freiheitsbewegung vorlebt und vorschlägt. Als Reaktion folgen Drohnen über Dörfern in Rojava, Polizeirazzien und Folterhaft in Bakur, systematische Unterdrückung und Hinrichtungen in Rojhilat, machtpolitische Drohszenarien in Başur. In Europa bleibt die Verurteilung an den massiven und transnationalen Menschenrechtsverletzungen an dem kurdischen Volk, das vor kurzer Zeit noch für den Kampf gegen die IS weltweit Lobeshymnen hören durfte. Lobeshymnen sind aber leere Worthülsen, die weder vor Folter noch Verfolgung und am wenigstens vor Ermordung schützen wie uns jüngst am 23. Dezember 2022 erneut schmerzhaft vor Augen geführt wurde.

Eine ausbleibende Verurteilung wäre für das kurdische Volk nur eine der vielen gewohnten Solidaritätslücken, die Teil seiner Geschichte ist. Was Europa tut, ist vor allem als Mittäterschaft, wenn nicht als Täterschaft zu betrachten. Politisch aktive Kurdinnen und Kurden werden in die Türkei abgeschoben, wo sie eine unrechtmäßige Verurteilung und Haftstrafe erwartet. Politische Bildungs- und Aufklärungsarbeit über die Demokratisierungsvorschläge der kurdischen Bewegung wird kontinuierlich abgewertet, politisch Engagierte werden wie Schwerstkriminelle behandelt. Die Polizei geht mit rigoroser und unverhältnismäßiger Gewalt gegen Demonstrierende kurdischer Versammlungen vor, weil sie für die Freiheit Abdullah Öcalans protestieren, dessen Ideologie hinter „Jin, Jiyan, Azadî“ seit Monaten in aller Munde ist. Trotzdem werden seine Fotos und sein Name zensiert, als führender Name einer demokratischen und feministischen Freiheitsbewegung wird Abdullah Öcalan bekämpft während Kriegsverbrecher wie Recep Tayyip Erdoğan hofiert.

Bei Kurdinnen und Kurden gibt es diese traurige Kontinuität des symbolischen Sterbens. Jeder Tod ist ein Symbol, der den nächsten ebnet, der den nächsten ebnet und so weiter. Heute wird Ahmet Kaya in der Türkei gefeiert als hätte man ihn nicht gebrochen im Exil sterben lassen. Aber wir wissen, dass sein Name seinen eigenen Tod überdauert wie sein erfahrenes Unrecht auch nicht nur ein an ihm verübtes Unrecht war. Dass 10 Jahre nach der Ermordung unserer 3 Freundinnen dieselbe Gewalt vor dem Ahmet Kaya Zentrum geschehen ist , verdeutlicht diese Kontinuität. Kurdinnen und Kurden sind in ihrem Schmerz verbunden, ihrer Trauer, ihrem Widerstand und in Ihrem Bewusstsein, da ihre Existenz den Zusammenschluss aller politischen Fronten begründet, die sie entrechten und bis zur Unkenntlichkeit des Kurdischen assimilieren will.

Das kurdische Volk wird so massiv bekämpft, weil es sich den machtpolitischen Interessen nicht beugen will und Widerstand leistet. Das muss jedem endgültig klar werden. All die Namen und unschuldigen Leben sind nicht umsonst gegangen. Deswegen sprechen wir nicht davon, dass sie gestorben sind, sondern dass sie für eine bessere Gesellschaft gekämpft haben. Und auch heute sagen wir: Şehîd namirin.