Rassismus

Das Patriarchat ist ein globales, gesellschaftsübergreifendes System mit vielfältigen und nicht immer klar sichtbaren sozialen Auswirkungen. Es ist insofern als System zu definieren, als dass die Gesellschaft als Ganzes auf der Basis patriarchaler Werte geformt wird. Dazu gehören das Vertrauen in männliche Herrschaft, die Normalisierung von Aggression, Krieg und (sexualisierter) Gewalt und die Spaltung der Gesellschaft anhand hegemonial definierter Kategorien. Es handelt sich also um weitaus mehr als die sexistischen Meinungen und Handlungen einzelner Personen. Es ist ein Glaubenssystem, das die Welt in verschiedene Kategorien wie Subjekt und Objekt, in Herrscher und Unterworfene, in Männer und Frauen oder in Westen und Osten aufteilt. Diese Einteilungen, die sich in die kollektive Mentalität eingeprägt haben, haben einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf Macht- und Gewaltverhältnisse auf der ganzen Welt. Und sie wirken nicht nur in Einzelpersonen, die explizit rechts und anti-feministisch sind, sondern sitzen viel tiefer im gesamtgesellschaftlichen Denken, da das Patriarchat ein 5000 Jahre altes und sehr wirksames System ist. Sowohl in den letzten Jahrtausenden als auch heute kommen patriarchale Verhältnisse in jeder Gesellschaft auf andere Arten zum Vorschein. So ist es für eine solide feministische Gegenwehr und Organisierung von Bedeutung, dass das System in seinen verschiedenen Ausprägungen verstanden und analysiert wird, anstatt simplifiziert zu werden.

Ein verbreitetes Feindbild, welches sich viele westliche Medien, Rechte aber leider auch vermeintliche Aktivist*innen oft zu Nutzen machen ist das des migrantischen und/oder nicht-weißen Mannes als Unterdrücker der Frau. Dieses Feindbild hat in Deutschland vor allem bei rechtsgesinnten Männern Anklang gefunden, die sich bisher nicht für die Belange von Frauen interessiert haben, aber auf einmal der Meinung waren, “ihre” Frauen vor den “fremden” Männern beschützen zu müssen. Teilweise ist davon die Rede, dass Frauen in Deutschland bisher respektiert wurden, die Frauenfeindlichkeit und der Sexismus in den letzten Jahren jedoch aus anderen Ländern importiert worden wären. Sehr paradox – der deutsche, rechte Mann erhebt sich nun als Verfechter der Frauenfreiheit. Schnell wird klar, dass es nicht um die Freiheit der Frauen geht, sondern darum, diese Idee für die eigenen chauvinistischen Ansichten zu instrumentalisieren. Leider wird teilweise auch von feministischer Seite versucht, das Problem der Mysogynie zu externalisieren und auf “die Anderen” zu projizieren. Mit Bezug auf Menschen, die in den letzten Jahren nach Europa geflüchtet sind, wird davon gesprochen, dass lang erkämpfte Freiheiten für Frauen in Europa nun durch “die frauenfeindlich gesinnten muslimischen Männer” in Gefahr seien.

Aufgrund solcher Widersprüche ist es umso wichtiger, das Wirken des Patriarchats richtig zu analysieren, anstatt es zu simplifizieren und in ein zweigeteiltes Weltbild zu quetschen. Vereinfachungen dieser Art bedienen sich einer gefährlichen Abwälzung von Sexismus auf andere Kulturen und lenken dadurch von der Tatsache ab, dass das Patriarchat “im Westen” genauso real ist wie “im Osten”, auch wenn es überall unterschiedliche Gestalten annimmt. Damit unsere Kämpfe nicht durch kolonialistische und rassistische Vorurteile gespalten werden, ist es von Bedeutung, die Komplexität des Patriarchats und ihren Zusammenhang mit anderen Machtstrukturen zu verstehen. Nur so entwickeln wir unsere ideologischen Selbstverteidigungsmechanismen, um uns wirkungsvoll zu organisieren.

Der Anfang des Patriarchats überschneidet sich historisch mit dem Anfang der ersten Staatsformen, also mit den ersten Formen organisierter Herrschaft, sowie mit dem Anfang von Privatbesitz. Dort, wo Frauen in der Regel das Zentrum der Gesellschaft bildeten, wurden in Mesopotamien vor 5000 Jahren die ersten Staaten errichtet. Dafür mussten Frauen gewaltsam ihrer Autorität entrissen und versklavt werden. Die Errichtung von Staaten war kein friedlicher Prozess, sondern eine gewaltsame Machtübernahme durch eine patriarchale Kollaboration. Seitdem, so fasst es die kurdische Frauenbewegung zusammen, hat das Patriarchat sich die Mythologie, die Philosophie, die Religionen und schließlich die Wissenschaften zu eigen gemacht, um seine Institutionalisierung ideologisch und historisch zu festigen. Es wurden im Laufe der Zeit diese verschiedenen ideologischen Werkzeuge benutzt, um Frauen zu degradieren, zu entmenschlichen und Gewalt an ihnen zu legitimieren. Sie alle haben ihrerzeit ihren Beitrag zur Unterdrückung von Frauen und zur Unterdrückung der Gesellschaft geleistet. Die Rolle der Religionen fällt dabei besonders auf, da ihre frauenfeindlichen Merkmale für die meisten Menschen offensichtlicher zu erkennen sind. Dies bedeutet jedoch nicht, dass ihr Beitrag zur patriarchalen und staatlichen Macht höher war als etwa der der Philosophie oder der Wissenschaft. Tatsächlich ist es so, dass zum Beispiel die modernen Wissenschaften, dadurch, dass sie sich als rationale Produzenten von Wissen hinstellen, neutral in Bezug auf Geschlechterfragen wirken. Dabei wurde das Fundament der modernen Wissenschaften durch frauenfeindliche Denker wie Francis Bacon oder Sigmund Freud gelegt. Durch ihren vermeintlichen “Objektivitätsanspruch” macht die Wissenschaft sich jedoch nahezu immun gegen Kritik. Religionen dagegen wurden in den letzten Jahrzehnten von feministischen Bewegungen weltweit viel schärfer unter die Lupe genommen und kritisiert als andere Institutionen. Während viele Kritiken an den Religionen berechtigt sind, reicht es jedoch nicht aus, sich an einzelnen religiösen Symbolen und Inhalten abzuarbeiten. Weiße Frauen wie Alice Schwarzer versuchen in diesem Zusammenhang schon seit Jahrzehnten, das Problem des gesellschaftlichen Sexismus auf den Islam, und speziell auf das Kopftuch zu schieben, welches Schwarzer als “die Flagge der islamistischen Kreuzzügler” definiert. Es ist Realität, dass es Millionen von Frauen gibt, gezwungen werden, sich zu bedecken oder komplett zu verschleiern. Und es gibt Millionen von Frauen, die unter dem Deckmantel der Religion alle möglichen Arten von Folter und Unterdrückung über sich ergehen lassen müssen. Doch es gibt einen Unterschied zwischen aufrichtiger Solidarität auf Augenhöhe und einer mit Überheblichkeit und Rassismus gepaarten Herangehensweise, welche muslimische Frauen als unmündig erklärt und ihnen jegliche Fähigkeit zum Denken, zur Selbstbestimmung und Selbstbefreiung abspricht. So werden Frauen, die sich bewusst und aus eigenem Willen zum Tragen des Kopftuchs entscheiden, oft nicht ernst genommen. Sie werden auch nicht als mögliche Gefährtinnen im Kampf gegen das Patriarchat wahrgenommen, da von vornherein nicht in Erwägung gezogen wird, dass auch sie kritische Positionen einnehmen, Machtverhältnisse reflektieren und kämpfen könnten. Inwiefern hat eine solche Annäherung an andere Frauen noch mit Feminismus zutun, wenn wir Feminismus doch als einen inklusiven Kampf verstehen, der darauf basiert, dass wir unsere Identitäten und Perspektiven frei leben und unsere Kräfte bündeln? Anstatt die feministische Solidarität zu stärken, wird hier im neokolonialistischen Stil versucht, westlich-feministische Perspektiven anderen aufzudrängen und die Religion, speziell den Islam, als die alleinige Quelle des Übels zu sehen. In altbekannter Weise wird von einer Deutungsmacht westlicher Ideen ausgegangen. Außerdem liegt ein Glaube an einen linearen Fortschritt der menschlichen Zivilisation zugrunde, in welchem Europa und andere industrialisierte Staaten oft als die neue, fortschrittliche Welt und andere Länder als die alte, konservative Welt betrachtet werden. Kolonialisten machten diese Zweiteilung schon vor Jahrhunderten, indem sie den kolonialen Raum als den barbarischen, wilden Zustand des Menschen und Europa als den Zustand der erfolgreichen Zivilisation darstellten. Auf dieser Basis wird heute auch davon ausgegangen, dass z.B. die Befreiung von Frauen, oder Freiheit generell, im Westen fortgeschrittener sei als im Rest der Welt. Aber von was für einer Freiheit sprechen wir hier? Bedeutet Freiheit, sich im unterdrückerischen System irgendwie etabliert zu haben? Bedeutet es, eine hohe Position in den Institutionen des Staates und des Kapitalismus innezuhaben? Oder sprechen wir von einer Freiheit, in der jegliche Herrschaftsformen abgelehnt werden und in der wir als unterdrückte Geschlechter Seite an Seite stehen und uns verteidigen, anstatt dem Patriarchat und der Herrschaft in die Hände zu spielen? Von letzterer Freiheit kann auch in Europa nicht gesprochen werden. Frauenbewegungen haben hier viel geleistet und gekämpft. Das Frauenwahlrecht, das Recht auf Arbeit oder das Recht auf Abtreibung wurden lange und hart erkämpft. Das Patriarchat bedient sich heute jedoch subtilerer Methoden, um Frauen von wirklicher Freiheit fernzuhalten. Dazu gehört auch, ihnen falsche Freiheiten zu verkaufen und ihre Isolation und Spaltung untereinander auf verschiedene Weise zu vertiefen. Der Versuch, Frauen voneinander zu isolieren und ihre Einheit zu sabotieren, ist in Europa sehr wirksam gewesen und hat es bisher verhindert, dass der alltäglichen (sexualisierten) Gewalt, der Fremdbestimmung unserer Körper und unserer Leben, der systematischen Benachteiligung und dem Frauenhass eine ernsthaft kämpfende, starke Bewegung entgegengesetzt werden konnte. Die unsolidarische Einstellung gegenüber muslimischen, aber auch allen anderen Frauen auf der Welt, ist ein Resultat der patriarchalen Spaltungsversuche. Die Abarbeitung am Islam und an Kopftüchern ist eine Ablenkung davon, dass wir auch in Europa noch weit davon entfernt sind, uns wirklich frei zu nennen. Das Patriarchat existiert nicht nur in einer bestimmten Kultur und entspringt auch nicht einer bestimmten Religion. Und es wurde ganz sicher nicht vor Kurzem nach Europa “importiert”: Jährlich sind laut Statistiken mindestens 100.000 Frauen in Deutschland Opfer von Gewalt durch ihre Partner; Etwa alle zwei Tage stirbt eine Frau in Deutschland durch einen (Ex-)Partner; Es gibt jedes Jahr ca. 8000-12000 erfasste Fälle von Vergewaltigungen oder anderen Formen sexueller Übergriffe. Die Dunkelziffern müssen weitaus höher liegen. Es gibt kaum Frauen in Deutschland, die noch nie in ihrem Leben sexuelle Übergriffe und Belästigungen erlebt haben. Es passiert tagtäglich und zeigt die Allgegenwärtigkeit der patriarchalen Mentalität in der Gesellschaft auf. Ähnliche Statistiken mit teilweise auch höheren Zahlen gibt es auch in allen anderen europäischen Ländern. Die Täter mit europäischer Staatsangehörigkeit bilden noch immer die Mehrheit der Tatverdächtigen – doch um rassistische und nationalistische Hetze voranzutreiben, werden geflüchtete Muslime immer wieder als Sündenbock herangezogen. Wir müssen die globalen Zusammenhänge zwischen Rassismus, Patriarchat und Kapitalismus gut verstehen, um nicht in solche Fallen zu geraten und Spaltungen zuzulassen. Seit seiner Entstehung beruhte das Patriarchat auf der Trennung der Einheit und Solidarität der Frauen. So muss ein solider feministischer Kampf diese Trennungen überwinden und alle Frauen als politische und potenziell kämpferische Subjekte miteinbeziehen, anstatt sie auszuschließen. Das, was wir in erster Linie verstehen müssen, ist nämlich, dass das Patriarchat überall präsent ist und auf jeder Ebene des Lebens bekämpft werden muss, und vor allem auch in uns selbst.

Jede Frau hat ihre Geschichte, ihren Hintergrund, ihre Perspektive, ihre Erlebnisse und ihre eigenen Ideen und Sehnsüchte in Bezug auf Freiheit. Deshalb wird das Wort Selbstbestimmung in der kurdischen Bewegung groß geschrieben. Es geht dabei nicht nur darum, sich unabhängig vom Staat zu organisieren, sondern auch, sich bewusst als Gemeinschaft und mit der eigenen, frei gelebten Identität, mit der eigenen Geschichte und der eigenen Perspektive im revolutionären Prozess und im Aufbau der freien Gesellschaft einzubringen. So gibt es in den befreiten Gebieten Kurdistans verschiedene Komitees und Räte, damit sich möglichst alle Gruppen mit ihren Interessen und Belangen politisch ausdrücken und vertreten können. Freiheit kann niemals bedeuten, die eigene Identität aus Zwang aufzugeben. So sehr Religionen auch kritisiert werden müssen, kann in einer demokratischen Gesellschaft nicht einfach von einer Abschaffung von Religion gesprochen werden. Religionen wurden in der Vergangenheit schon instrumentalisiert, für politische Zwecke und zur Kontrolle der Gesellschaft missbraucht, zur Legitimierung für Gewalt an Frauen benutzt und müssen sich, wie viele andere Institutionen, auch einer scharfen feministischen Kritik unterziehen. Religionen haben jedoch auch ihre revolutionären und kreativen Aspekte, die die Gesellschaft nicht aufgeben muss. Es liegt vielmehr in der Hand der Gesellschaft, in ihren eigenen Communities und durch Bündnisse unter Frauen die Probleme selbst in die Hand zu nehmen, anstatt sich die Analyse ihrer Situation von anderen diktieren zu lassen.

Der Kernansatz eines gemeinsamen Kampfes sollte sein, die weltweiten und gesellschaftsübergreifenden Elemente und Ausprägungen des Patriarchats und des Kapitalismus zu verstehen, indem wir zusammenarbeiten, uns austauschen und die jeweiligen Rollen definieren, die uns im Kampf zukommen. Es gibt viel Arbeit zu tun, und wir alle tragen große Verantwortungen in diesem Widerstand – so lasst uns den rassistischen Spaltungen zum Trotz die Solidarität stärken und den globalen patriarchalen Kapitalismus gemeinsam bekämpfen!