Erklärungen

Aufruf: Mit Entschlossenheit für Frieden, Demokratie und Aufarbeitung!

Anfang Mai hat die PKK, dem Aufruf ihres inhaftierten Gründers und Vorsitzenden Abdullah Öcalan folgend, ihre Auflösung bekannt gegeben. Kurz nach Beginn der Gespräche zwischen Vertreter*innen der DEM-Partei und Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali übermittelte Abdullah Öcalan Ende Februar eine historische Botschaft, der sich an die PKK, aber auch an die Zivilgesellschaft richtete. Er plädiert darin für eine neue Phase des Friedens und der Demokratisierung. Ein Schritt in diese Richtung müsse die Beendigung des bewaffneten Kampfes und die Auflösung der PKK sein. Als „umfangreichste bewaffnete Bewegung in der Geschichte der Republik“ habe die PKK ihre Lebensdauer erreicht; ihre Gründung sei in erster Linie eine Antwort auf die Tatsache gewesen, dass die Kanäle demokratischer Politik verschlossen waren. Nun sei die Zeit gekommen, die kurdische Frage auf politischem Wege zu lösen.

In einer Zeit, in der sich der Krieg und die Unterdrückung zugespitzt und die Situation ausweglos erschien, wagte Abdullah Öcalan einen historischen Schritt, der den bestehenden Verhältnissen etwas entgegensetzen will, und rief zu einer tiefgreifenden Veränderung der Gesellschaft und Politik und der Annäherung an die kurdische Frage auf. Heute, angesichts globaler Krisen und wachsender Ungerechtigkeit, ist es dringender denn je, seinen Aufruf zu verstehen, seine Ideen zu diskutieren – und aktiv zu werden.

Die PKK hat vom 5.-7. Mai ihren Kongress abgehalten und ihre Auflösung verkündet. Doch die Auflösung der PKK impliziert nicht, dass die Notwendigkeit für weiteren Widerstand aufgehoben ist. Der Kampf für Freiheit und Selbstbestimmung ist nicht zu Ende, sondern wird an die demokratische Gesellschaft übergeben. Damit kommt uns als Zivilgesellschaft, und insbesondere als Frauen, Jugendliche und Menschen, die sich für Frieden, Selbstbestimmung und Gerechtigkeit einsetzen, eine bedeutende Rolle zu. Jetzt ist nicht die Zeit, sich zurückzulehnen und den weiteren Verlauf wie Außenstehende zu betrachten. Mit unserer Entschlossenheit, hinter unseren Prinzipien zu stehen und für diese zu kämpfen, können und müssen wir den weiteren Prozess mitgestalten.

Für einen demokratischen Wandel reichen einseitige Bemühungen nicht.

Insbesondere im Anbetracht der immer noch feindlichen Haltung des türkischen Staates – was sich in den anhaltenden Angriffen gegen die Guerilla und in Nordsyrien/Rojava zeigt – müssen wir auf unserem Kampf beharren und politischen Druck ausüben. Die türkische Regierung weigert sich bisher, ernsthafte Schritte für einen konstruktiven politischen Prozess zu gehen. Sie zeigt keine Bereitschaft für eine Aufarbeitung des jahrzehntelangen Konflikts und der staatlichen Verbrechen in Kurdistan. Für einen wirklichen demokratischen Wandel reichen einseitige Bemühungen nicht, die türkische Regierung muss Möglichkeiten der Aufarbeitung, der Verhandlungen und der politischen Organisierung zulassen und bereitstellen. Doch mit den Angriffen und den Repressionen gegen Oppositionelle demonstriert die Türkei das Gegenteilige.

Umso mehr ist unsere Entschlossenheit gefragt. Umso mehr ist unser Widerstand notwendig. Umso mehr müssen wir unsere Prinzipien in die Gesellschaft tragen und für die Selbstbestimmung der Völker, für ein Ende staatlicher und patriarchaler Gewalt, für ein Ende von Ausbeutung und Krieg und für eine radikale demokratische Transformation der Gesellschaft kämpfen. Wir müssen Druck ausüben – nicht nur auf den türkischen Staat, der den Prozess blockiert, sondern auch auf den deutschen Staat, der weiterhin kurdische Aktivist*innen mit dem Vorwurf der PKK-Mitgliedschaft kriminalisiert, wie jüngst den ehemaligen Vorsitzenden des kurdischen Dachverbands KCDK-E, der in Bremen festgenommen wurde.

Es reicht nicht, dass Regierungen und Parteien den Aufruf Öcalans oder die Auflösung der PKK begrüßen. Es müssen Taten folgen, es muss ein neuer Umgang mit der kurdischen Frage und mit der PKK gefunden werden, damit ein politischer Prozess ermöglicht wird.

Zentral in der kommenden Phase ist die Vertiefung unseres Kampfes gegen das patriarchale und kapitalistische System.

Doch noch wichtiger als Druck auf Regierungen und Staaten ist unser Kampf innerhalb der Gesellschaft. Nun sind all unsere Bemühungen gefragt, um über den Prozess zu informieren und aufzuklären, unsere Forderungen transparent zu machen und uns zu organisieren und zu vernetzen. In einer Welt, in der Staaten, Kapitalismus, Kriege und Besatzung unvorstellbares Leid verursachen, müssen wir noch größere Anstrengungen unternehmen, um Frieden und Gerechtigkeit herzustellen.

Zentral in der kommenden Phase ist die Vertiefung unseres Kampfes gegen das kapitalistische und patriarchale System. Abdullah Öcalan macht in seinen Erklärungen und auch in seinen veröffentlichten Schriften deutlich, dass sich echter Frieden am Grad der Befreiung der Frau misst. Er sieht in der patriarchalen Unterdrückung nicht nur eine Form sozialer Ungleichheit, sondern die Wurzel von Krieg, Ausbeutung und Gewalt insgesamt.

Öcalan erkennt in der Frau nicht nur ein Opfer jahrtausendelanger Unterdrückung, sondern die stärkste Trägerin des Widerstands für eine neue, freie Gesellschaft. Der Aufbau einer demokratischen, ökologischen und geschlechterbefreiten Gesellschaft ist eng verbunden mit emanzipatorischen feministischen Kämpfen. Er ruft dazu auf, die “revolutionäre Haltung der Frau” nicht nur als politischen Kampf zu sehen, sondern als tiefgreifende Transformation von Denken, Leben und Zusammenleben – als den Anfang vom Ende aller Herrschaftssysteme.

Lasst uns Verantwortung übernehmen und kämpfen – mit Entschlossenheit für Frieden, Demokratie und Aufarbeitung! Jin Jiyan Azadî!

Cênî – Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V.